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Rezension Titel

„Nach dem bewaffneten Kampf

Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit. Mit Beiträgen u.a. von Monika Berberich, Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts, Roland Mayer, Ella Rollnik, Irene Rosenkötter sowie Volker Friedrich, Angelika Holderberg und Lothar Verstappen. Mit einem Vorwort von Davis Becker, Gießen 2007 (Psychosozial-Verlag)

Als der Rezensent das Buch das erste Mal in einer Buchhandlung durchblätterte, dachte er sofort: Aha, Psychologisierung der RAF, also: Wenn nicht Verrückte, so doch psychisch Gestörte, also Individualisierung des Konzepts „Stadtguerilla“, also ideologische Bewältigung des Problems. Manchmal geht man aber auch mit seinen linken Vorurteilen in die Irre. Das Buch ist keine ideologische Bewältigung des Themas linker Terror, auch wenn falsches Bewusstsein vorkommt, und das Buch behandelt tatsächlich auch den psychologischen Aspekt der „Roten Armee Fraktion“. Einige Psychotherapeuten und ehemaligen Mitgliedern der „Rote Armee Fraktion“ stellen ihre Erfahrungen mit diesen Gesprächen in dem Buch dar.

Von allgemeinem Interesse sind aber weniger die Individuen, die eine falsche politische Strategie gewählt haben, sondern die Frage: Wie geht man mit Niederlagen um? Und da trifft sich die Problematik der ehemaligen RAF-Leute mit den Niederlagen der Linken überhaupt in den letzten 30 Jahren. Will man nicht in der unendlichen Mannigfaltigkeit psychischer Aspekte, persönlicher Erfahrungen und situativer Bedingungen sich verlieren – dieser Gefahr verfällt das vorliegende Buch teilweise -, dann muss man die prinzipiellen Fragen klären.

Guerillakrieg kann eine Option sein, um gegen eine erdrückende Fremdherrschaft, den Terror einer verbrecherischen Despotie, die Unerträglichkeit der Verhältnisse zu kämpfen. Die Unerträglichkeit der Situation allein führt bestenfalls zur individuellen Revolte. Als hinreichende Bedingung für einen Guerillakrieg müssen weiter hinzukommen:

  1. Der überwiegende Teil der Bevölkerung muss hinter einem stehen (Die Kämpfer schwimmen im Volk wie die Fische im Wasser (Mao)).
  2. Die Kämpfer müssen Unterstützung mit Waffen, Geld usw. von außen haben (Clausewitz).

Sind diese beiden pragmatischen Bedingungen nicht erfüllt, ist ein Guerillakonzept bloßes Abenteuertum oder Verzweiflungstat. Daraus folgt notwendig, dass die „RAF“, als sie mit ihrem Kampf begann, diese Bedingungen nicht vorfand.

In Bezug auf die bürgerliche Demokratie sagt Marx zum Problem der Gewalt: „Das Ziel (…) ist die Emanzipation der Arbeiterklasse und die darin enthaltne Umwälzung (Umwandlung) der Gesellschaft. ‚Friedlich’ kann eine historische Entwicklung nur so lange bleiben, als ihr keine gewaltsamen Hindernisse seitens der jedesmaligen gesellschaftlichen Machthaber in den Weg treten. Gewinnt z. B. in England oder in den Vereinigten Staaten die Arbeiterklasse die Majorität im Parlament oder Kongreß, so könnte sie auf gesetzlichem Weg die ihrer Entwicklung im Weg stehenden Gesetze und Einrichtungen beseitigen, und zwar auch nur, soweit die gesellschaftliche Entwicklung dies erfordre. Dennoch könnte die ‚friedliche’ Bewegung in eine ‚gewaltsame’ umschlagen durch Auflehnung der im alten Zustand Interessierten; werden sie (wie der Amerikanische Bürgerkrieg und die Französische Revolution) durch Gewalt niedergeschlagen, so als Rebellen gegen die ‚gesetzliche’ Gewalt.“ (MEW 34, S. 498 f.)

Titel des Buches

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Ähnlich hatte später der junge Che Guevara argumentiert, indem er auch den entscheidenden Grund gegen den Guerillakampf in der bürgerlichen Demokratie nennt. „Dort, wo ein Unterdrückerregime auf mehr oder weniger demokratischem Wege an die Macht gelangt ist (…) und wo wenigstens dem Anschein nach die verfassungsmäßige Gesetzlichkeit gewahrt wird, kann keine Guerillabewegung entstehen, weil die Möglichkeiten des Kampfes mit friedlichen Mitteln noch nicht ausgeschöpft sind.“ (Zitiert nach Gaßmann: Ethik des Widerstandes, S. 199)

Die Aussagen von Marx und Che Guevara haben moralische Implikationen. Wenn das ökonomische System die Menschen beherrscht, anstatt dass die Menschen ihre Wirtschaft unter ihre vernünftige Kontrolle bringen; wenn in der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise Gewalt qua Eigentumsverhältnissen inkarniert ist, die 90 % der Menschen zwingen, von Lohnarbeit zu leben, d.h. sich ausbeuten zu lassen, dann kann es nicht im Interesse der abhängigen Menschen liegen, dieses Gewaltverhältnis durch ein anderes Gewaltverhältnis zu ersetzen, sondern solche herrschaftlich verfassten Verhältnisse überhaupt abzuschaffen. Der Zustand der Gewalt würde dann abgelöst durch einen Zustand der Moralität („Emanzipation der Arbeiterklasse“). Eine vernünftige Moral regelte dann die Beziehungen der Menschen untereinander, sie wäre das Gesetz ihrer Freiheit – das Gegenteil von Gewaltverhältnissen. Wer gegen das Moralgesetz verstößt, schädigt andere Menschen. Gewalt gegen andere, das Töten von Menschen überhaupt, ist – abgesehen von dem jeweilig geltenden Recht – immer ein Verstoß gegen die Moral, also unmoralisch, ob dies ein individueller Terrorist tut oder der Staat.

Insofern ist jeder Krieg, jeder Guerillakampf unmoralisch. Nun kann es durchaus Verhältnisse geben - wie oben beschrieben -, wo man zur Gewalt greifen muss, um Schlimmeres zu verhindern (z. B. Widerstand gegen ein faschistisches Regime). Aber auch dann gilt die Marxsche Einschränkung: „soweit die gesellschaftliche Entwicklung dies erfordre“, oder mit den Begriffen von Zweck und Mittel ausgedrückt: Wenn der Zweck die Emanzipation der Menschen ist, dann können nicht Unschuldige oder Unbeteiligte getötet werden. Karl-Heinz Dellwo hat dies erkannt, wenn er schreibt: „Im Gefängnis war mir irgendwann klar geworden, dass wir von keiner Gegengesellschaft oder Gegenmoral reden können, wenn dies die Möglichkeit von Geiselerschießungen und damit die vollständige Verdinglichung von Menschen beinhaltet. Es wäre nur eine barbarische Gesellschaft. Heute akzeptiere ich, dass unsere Handlungen verurteilt worden sind und Folgen für uns haben mussten. Es wird keine Legitimität konstruiert, wenn das eine Unrecht mit dem anderen aufgerechnet wird. Es zeigt nur zwei Situationen, die abzulehnen sind.“ (S. 108)

Auch andere argumentieren so in diesem Buch, ein ehemaliger RAF-Angehöriger „NN“ übertreibt diesen Gedanken bis hin zur moralischen Rigidität. „Ich bin davon überzeugt, dass aus Strukturen, die nicht stimmen, keine richtige Politik kommen kann. Sobald man anfängt, faule Kompromisse zu machen, Menschen zu benutzen, sobald es Hierarchien, Befehle und Gemauschel gibt usw., mit der Begründung, dass das halt notwendig sei, um – aus einer Position der Schwäche – ein höheres Ziel zu erreichen, kann man’s besser lassen. Es lohnt die Mühe nicht, da unter dem Strich auch nichts anderes herauskommen wird als wir bereits haben. Je mehr im täglichen Prozess das Abstraktionsvermögen bemüht werden muss, um für die Scheiße, die man macht, den höheren Kontext und die rechtfertigende Begründung zu suchen, desto gründlicher verrutscht die Sache.“ (S. 163)

Solche Einsichten kamen aber zu spät, haben nicht verhindert, das Konzept der RAF anzufangen und durchzuziehen. Selbst im Nachhinein wird die Strategie einer Stadtguerilla in einer bürgerlichen Demokratie gerechtfertigt. So schreibt Karl-Heinz Dellwo: „Unser Aufbruch war richtig. Es war ein Versuch, ‚das Kontinuum des Bestehenden’ aufzusprengen.“ (S. 129)  Er datiert die Falschheit des RAF-Konzeptes erst auf 1977, als es nicht mehr um die politischen Ziele ging, sondern um die Freipressung der Gefangenen der 1. Generation, welche Geiselnahme und Tötung Unschuldiger involvierte. Ähnlich argumentiert Roland Meyer: „Das Projekt RAF ist gescheitert, vieles daran war falsch, manches unentschuldbar. Dennoch war der Versuch in dieser Welt richtig.“ (S. 156) 

Als rationale Begründung für den als „richtig“ eingestuften Versuch gibt Dellwo an: „Die RAF ging davon aus, dass der Prozess in Gang zu setzen ist, aus dem der Minderheitenwille nach Befreiung gesellschaftlich allgemein werden kann.“ (S. 128)  Wie man durch Attentate auf Führungspersonen, also Morde, aus den Minderheitenwillen eine Mehrheit macht, ist schleierhaft. Die Erfahrungen der gewalttätigen Anarchisten im 19. Jahrhundert zeigen, dass ihr Terror der Reaktion genützt hat. Die Ermordung Kotzebues durch einen Studenten hat die Karlsbader Beschlüsse legitimiert, die Attentate auf den ersten deutschen Kaiser hat Bismarcks Sozialistengesetze durchsetzen helfen. Nur die deutschen Faschisten hatten Erfolg mit ihrer Propaganda der Tat, sie konnten Teile des deutschen Volks einschüchtern und ihnen Angst machen und diese Angst in Wahlerfolge ummünzen. Aber deren Anspruch war auch nicht die „Emanzipation“ (vgl. u.a. S. 147), sondern politische Macht mittels Terror, Gleichschaltung und offener Diktatur zur Sicherung der Eigentumsverhältnisse  und zum zweiten Versuch des deutschen Kapitals, nach der Weltmacht zu greifen.

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Warum kann man nicht aus der Geschichte lernen? Warum musste man Fehler wiederholen? Warum brachen die „linken Kinderkrankheiten des Kommunismus“ (Lenin) wieder durch? Warum hat die Selbstreflexion der linken Bewegung bei den Leuten von der RAF versagt, warum wurde die Marxsche Forderung, sich gründlich selbst zu kritisieren, nicht beachtet, bevor man in die Illegalität ging? Diese Fragen eines vernünftig denkenden Menschen beantwortet das Buch nicht und beantworten die ehemaligen Terroristen nicht. Stattdessen werden zwei absurde Gründe angedeutet: Antiintellektualismus und die Sehnsucht des unfertigen, kleinbürgerlich sozialisierten Individuums nach Geborgenheit, dem befreiten Leben, dem ganz Anderen.

Den Irrationalismus und Antiintellektualismus drückt NN aus, wenn er von „kaltverstandlichen Historikern“ redet, die einmal die Auswirkungen der „RAF“ darstellen werden. Oder wenn Elke Rollnik schreibt: „Die Diskussion musste auch den Beziehungsbereich, Emotionen, Verletzungen ansprechen, weil unsere Politik niemals rein theoretisch, intellektuell bestimmt war, sondern von Anfang an die ganze Existenz mit einbezog.“ (S. 150)  Vor allem aber die Absurditäten mancher Argumentationen zeigen den Irrationalismus dieser Leute auf. So schreibt Roland Meyer: „Ein zentraler Punkt für die Gruppenstruktur war die Maxime, dass nur im Bruch mit der Legalität und den bisherigen Beziehungen der Keim für neue Beziehungen entsteht und eine neue Intensität der Beziehungen innerhalb der Gruppe. Damit verbunden war das Gefühl eines umfassenden Aufbruchs; es ging nicht (nur) um eine dem Bestehenden diametral entgegengesetzte Politik, sondern es sollte ein umfassender Aufbruch hin zu neuen Strukturen, Verhältnissen und Beziehungen in allem werden.“ (154)

Wie man im Kampf gegen einen hochgerüsteten Staat ohne Rückhalt in der Bevölkerung und unter ständiger Angst, verhaftet zu werden, von „Aufbruch hin zu neuen Strukturen“ sprechen kann, ist ein Rätsel – oder grenzt an Wahnvorstellungen. An dieser Stelle nun setzt der Erkenntniswert des Buches ein. Wenn es keine rationalen Gründe für die Politik der „Roten Armee Fraktion“ gibt, dann lässt sich diese nur psychologisch begreifen. Hier haben damals junge Menschen einen persönlichen Ausweg aus ihrer beschränkten Sozialisation, den spießigen Verhältnissen ihrer Kleinfamilie, den verknöcherten Strukturen der BRD und der Betroffenheit durch die ungeheuerliche Brutalität des Vietnamkrieges gesucht, aber nur indem sie diese Strukturen negativ abbildeten. Sie haben die Gewaltverhältnisse bekämpft, indem sie selbst die Gewalt zum Selbstzweck gemacht haben. Sie haben das kleinbürgerliche Ressentiment bekämpft, indem sie es in ihrer Gruppe reproduziert haben.

Fast alle ehemaligen Mitglieder der „RAF“ und der Bewegung 2. Juni klagen über die Sprachlosigkeit in den Gruppen, sowohl im illegalen Kampf wie im Gefängnis und der Zeit danach. „Wir (…) konnten Kritik schlecht ertragen. Die Therapeuten machten es möglich, jede Sichtweise zuzulassen und sich damit auseinander zu setzen.“ (Rollnik, S. 151 f.)  In der Illegalität wurde nicht über Aktionen usw. gesprochen, sondern die jeweilige Leitfigur bestimmte als Autorität, der sich die anderen kritiklos unterordnen mussten. Wer auch nur andeutungsweise andere Meinung war, wurde als Verräter ausgegrenzt. Im Gefängnis artet diese Entfremdung untereinander zum politischen Machtkampf aus. Dellwo beschreibt die Zustände untereinander ähnlich „den krankmachenden Zustand der Säuberungsprozesse der 30er Jahre in der Sowjetunion“, allerdings als „Farce“ (S. 119). Weitere Stichworte sind „Selbsthass“, „Selbstnegation“, „rasender Subjektivismus“, „Verunsicherung“, „Dichotomie des Entweder–oder“, „stumpfsinniger Militarismus“.

NN, der aus der „Unterstützerszene“ (offizielle Sprache) kam, fasst die psychische Gemengelage der „RAF“ zusammen: „Wahrscheinlich kann man sich die zugehörigen politischen Strukturen vorstellen, in denen Leute rumlaufen, die mit sich selber nicht zurechtkommen, nicht kritisch reflektieren, Fragen stellen usw. Hinter konspirativem Gehabe, zu dem es natürlich immer auch Anlässe gab, da die Observation einen fast erdrückte, und die politische Bewegung, an der man teilnahm, durchgängig kriminalisiert war, wurde auch vieles versteckt, was man nicht zur Diskussion stellen wollte. In diesem Nebel konnten elementare menschliche Eigenschaften wie Aufrichtigkeit und Offenheit schlecht gedeihen; für Intriganz und Heuchelei gab es im Gegensatz dazu ausreichend Raum. Die Kompensation persönlicher Unfähigkeiten auf dem Rücken anderer war gang und gäbe; es gab unzählige Tabus, Dinge, die man nicht denken, aussprechen und empfinden durfte.“ (S. 164)  Die Gespräche, die von Therapeuten jahrelang mit den Ehemaligen über ihre Erfahrungen mit der „RAF“ und dem Staat geführt wurden, waren die Alternative zum „verbitterten Rückzug in das individuelle Leben“ (S. 160).

Zu der Erkenntnis, dass ein Konzept wie das der Stadtguerilla in einer bürgerlichen Demokratie von vornherein ein Fehler war, dazu ringt sich allerdings keiner der Ehemaligen durch – trotz der Arbeit der Therapeuten. Die lange Haft, Isolationsfolter und Schikane durch den Staat, der ihnen eine Sonderbehandlung verpasste, hat sie derart deformiert, dass sie schon aus Selbstachtung zu einer radikalen Kritik ihrer Strategie unfähig sind. Sie verkraften die Niederlage ihrer Militarisierung der Politik mit dem Hinweis auf die Unreife der Zeit (Dellwo, S. 128 u.a.). Wenn aber die Zeit reif ist, dann ist eine Stadtguerilla erst recht überflüssig, wie Marx im obigen Zitat angedeutet hat - es sei denn die proslavery revolution (MEW 23, S. 40) siegt mal wieder wie 1933.

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Letzte Aktualisierung: 08.05.2007