PlatonAristotelesEpikurSpinozaLockeKant BildHegelMarxAdornoMarcuseBloch

 Erinnyen 18 LogoZeitschrift Logo

Erinnyen Aktuell ButtonPhilosophieseite ButtonSchuledialektik ButtonVereindialektik ButtonBuchladen ButtonTagbuch ButtonRedakteur Button

 

Home Editorial Button

Aphorismen Button

Materialistische Ethik Button

Rezensionen Button

Glossar Button

Impressum Button

Abbonieren Sie
unseren:

Newsletter Button

Holen Sie sich die
neuesten Headlines
auf ihren Bildschirm:

RSS-Feed Button
 

 

 

Wertphilosophie III Titel

   

Wissenschaftlicher Beitrag zur Ethik
von Bodo Gaßmann

III. Teil: Die materiale Wertethik von Max Scheler

Inhalt

            1.         Einleitung zur materialen Wertphilosophie
                  
            1. 1.     Die phänomenologische Methode von Husserl
                        als Voraussetzung von Schelers Begründung der Werte
            1. 2.     Eine Vorbemerkung zu Schelers Kantkritik
            1. 3.     Der Anspruch Max Schelers
(Teil 2)
            2.         Die Schelersche materiale Wertphilosophie

            2. 1.     Materiale Werte
            2. 1.1.  Zur Bestimmung materialer Werte
            2. 1.2.  Vorläufige Kritik der irrationalen Bestimmung
                        materialer Werte
            2. 2.     Zur Ontologie
            2. 2.1.  Einleitung: Ontologie überhaupt
            2. 2.2.  Kritik an Schelers Ontologie
(Teil 3)
            2. 3.     Phänomenologische Anschauung / Wesensschau
            2. 4.     Begründung des phänomenologischen Wertfühlens
            2. 5.     Kritik der Wertbegründung durch Wertfühlen
(Teil 4) 
            2. 6      Milieu und Anthropologie
            2. 7.     Der Ordo amoris
(Teil 5)
            2. 8.     Die materialen ethischen Werte im Konkreten
            2. 8.1.  Rangordnung der Werte
            2. 8.2.  Der Wert des Angenehmen
            2. 8.3.  Der sittliche Wert Gerechtigkeit
(Teil 6)
            2. 8.4.  Die Apologie des „echten“ Krieges und Gerechtigkeit
                        Schelers Kriegsideologie
            2. 9.     Das Sollen und die materiale Wertethik
            2. 9.1.  Das Sollen in der bürgerlichen Philosophie
                        bei Kant und Hegel
            2. 9.2.  Das Sollen in Schelers ontologischem Idealismus
(Teil 7)
            2.10.    Der Geist bei Scheler
            2.11.    Schelers Theologie
(Teil 8)
            3.         Die materiale Wertphilosophie als Ideologie

            3.1..    Reaktionärer Fortschrittsbegriff, konservative
                       Kapitalismuskritik und Legitimation der Ausbeutung
            3.2.     Die "Zerstörung der Vernunft" und Schelers Irrationalismus
            3.3.     Schlussbemerkung
       
                       Literatur

Divider Linie

Kritik der Wertphilosophie III

von Bodo Gaßmann

Die materiale Wertethik von Max Scheler

 

1.      Einleitung zur materialen Wertphilosophie

1. 1.   Die phänomenologische Methode von Husserl
         als Voraussetzung von Schelers Begründung
         der Werte

Die Problemstellung

Die bürgerliche Philosophie zur Zeit Husserls geht davon aus, dass Wissenschaft im "Sammeln und Beschreiben von Daten" (Fellmann: Phänomenologie, S. 25) besteht, die dann induktiv zu Theorien verarbeitet werden. In diesem Sinn äußert sich auch Scheler über diese. (Scheler: Ethik, z. B. S. 61 und S. 449 ff.)  Für ein derartiges beschränktes Verständnis von Wissenschaft ergibt sich das Problem, was die Daten, mit der ontologischen Sphäre zu tun haben, denn ohne einen Bezug zum außerbewussten Sein hat keine Theorie einen Wahrheitsgehalt. Da die vorherrschende bürgerliche Philosophie einer "generellen antimetaphysisches Tendenz" (Fellmann: Phänomenologie, S. 25) folgt, d. h. diese abstrakt negiert, ist sie unfähig, von den in der philosophischen Tradition bis Hegel und Marx entwickelten Lösungen der Fundierung von Wissenschaft auszugehen. Sie stürzt sich deshalb in der Phänomenologie auf pseudowissenschaftliche Lösungen des Fundierungsproblems, wie ich in diesem Teil der Kritik der Wertphilosophie zeigen werde.

Die bürgerliche Philosophie um 1900 wurde dominiert durch die Strömung des Neukantianismus auf der einen Seite und des Empirismus und Positivismus auf der anderen. Beiden gemeinsam ist die strikte Bewusstseinsimmanenz des wissenschaftlichen Denkens. Eine Reflexion auf die ontologischen Voraussetzungen wurde kaum vorgenommen. Dies zeigt sich darin, dass beide Positionen Front gegen Kants „Ding an sich“ machen, ohne dessen Problematik exakt herauszuarbeiten. Für Rickert gilt: „Alles, was es gibt, ist im Bewußtsein und gehört daher notwendig zum sinnlich Realen.“ (Zitiert nach Gaßmann: Wertphilosophie II, S. 19; vgl. darin auch das Kapitel 7. „Hiatus irrationalis“.) 

Der „Empiriokritizist“ Ernst Mach bemerkt in einer 1883 zuerst erschienenen Schrift über den naiven Realismus seiner Physikerkollegen: „Den Denkmitteln der Physik, den Begriffen Masse, Kraft, Atom, welche keine andere Aufgabe haben, als ökonomisch geordnete Erfahrungen wachzurufen, wird von den meisten Naturforschern eine Realität außerhalb des Denkens zugeschrieben.“ (Mach: Mechanik, S. 521)  Dies sei aber falsch, wie er in dem Bild vom Schnürboden eines Theater, der unserem Bewusstsein entspräche, deutlich machen will. Darin liegt das berechtigte Moment, dass die Kategorien unseres Denkens nicht in intentio recta mit der ontologischen Ansichbestimmtheit der Gegenstände gleichgesetzt werden dürfen. Aber wenn sich mit physikalischen Theorien Naturkräfte manipulieren lassen, Technik möglich ist, die zur notwendigen Bedingung des Industriezeitalters geworden ist (d. h. ohne diese Technik wäre die Masse der Menschen heute gar nicht existent), dann müssen die naturwissenschaftlichen Theorien auch in dem extramentalen Sein als fundiert gedacht werden. Dies aber bestreitet Mach. Man könne sich „nicht darüber täuschen, daß Raum- und Zeitempfindungen ebenso Empfindungen sind wie Farben-, Ton-, Geruchsempfindungen". (A.a.O., S. 522)
„Ein Körper ist eine verhältnismäßig beständige Summe von Tast- und Lichtempfindungen, die an dieselben Raum- und Zeitempfindungen geknüpft ist. Mechanische Sätze, wie z. B. jener der Gegenbeschleunigung zweier Massen, geben unmittelbar oder mittelbar den Zusammenhang von Tast-, Licht-, Raum- und Zeitempfindungen. Sie erhalten nur (durch den oft komplizierten) Empfindungsinhalt einen verständlichen Sinn.“ Diesen Gedanken verallgemeinert Mach zu seiner These von der metaphysikfreien Wissenschaft, die als „Empiriokritizismus“ in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. „Alle Wissenschaft kann nur Komplexe von jenen Elementen nachbilden und vorbilden, die wir gewöhnlich Empfindungen nennen. Es handelt sich um den Zusammenhang dieser Elemente.“ (Mach: Mechanik, S. 522)  Über die ontologischen Grundlagen sage die Naturwissenschaft nichts aus, man könne nicht „aus Massenbewegungen die Empfindungen ableiten“, da „Masse“ auch nur eine „verhältnismäßig beständige Summe von Tast- und Lichtempfindungen sei." (A.a.O., S. 522) "Die Mechanik faßt nicht die Grundlage, auch nicht einen Teil der Welt, sondern eine Seite derselben.“ (A.a.O., S. 523)

Gegen diese Position hat Lenin bekanntlich seine Kritik formuliert, in der er der Bewusstseinsphilosophie teilweise naiv seine realistische Abbildtheorie gegenüberstellt. Auch einige bürgerliche Philosophen empfanden Unbehagen an einer bloßen Bewusstseinsphilosophie. Die Position einer realistischen Widerspiegelungstheorie konnten sie nicht akzeptieren, weil sie deren metaphysischen Implikationen und Aporien nicht mit ihren an den Naturwissenschaften orientierten Verständnis vereinbaren konnten, nach dem es nur „empirisch-induktiv“ abgesichertes Wissen gäbe. Auch die dialektische Position Hegels war ihnen suspekt, weil dieser ebenfalls nicht-empirische, d. h. metaphysische, Implikationen verlangt. Husserl soll einmal gesagt haben: „Mir ist der ganze Deutsche Idealismus immer zum K... gewesen. Ich habe mein Leben lang (...) die Realität gesucht.“ (Zitiert nach Fellmann: Einführung, S. 42)

Die Übernahme der Hegelschen Dialektik hätte auch impliziert, sich ernsthaft mit der Marxschen Kapitalanalyse auseinanderzusetzen, dies blockierte aber schon die sozialisationsbedingte Schranke in der Psyche dieser bürgerlichen Philosophen. Anstatt sich aber der wirkenden Realität auszusetzen, z. B. einer Gesellschaftsanalyse zu widmen, verbleibt Husserl in der Immanenzphilosophie und will diese durch ontologische Fundierung neu begründen. Sein Spruch, der Geschichte  in der bürgerlichen Philosophie gemacht hat: „Zu den Sachen selbst!“ (zitiert nach Fellmann: Einführung, S. 44), ist für Husserl nicht wörtlich zu nehmen, bestenfalls haben seine Schüler ihn ernst genommen. Husserls Denken selbst bleibt sein Leben lang auf die Wissenschaft von der Wissenschaft beschränkt, die bestehende wissenschaftlichen Resultate als ontologisch fundierte begründen will.

Die phänomenologische Methode (Wesensschau)

Wissenschaft unterscheidet sich nach Husserl vom nichtwissenschaftlichen Bewusstsein, dass sie eine objektiv begründete Unterscheidung von komplexen Vorstellungen und deren Wesenheiten macht. Für Husserl ist die traditionelle Methode, Wesenheiten zu begründen, nicht mehr akzeptabel, weil sie an der Oberfläche der Phänomene bleibe. Komparation, Abstraktion und Reflexion (vgl. Kant: Logik, S. 524 ff.) würden immer nur Einzelmerkmale herausfinden und zu Wesenheiten kombinieren, denen andere Kombinationen mit dem gleichen Recht gegenüberstehen. (Die Hegelsche Bestimmung des Wesens als Gesetz der Erscheinungen kommt bei Husserl nicht vor.) Dadurch sei die Begründung von Wesenheiten aber nicht objektiv. Husserl glaubt nun in der „phänomenologischen Wesensschau“ eine Methode gefunden zu haben, diesen Mangel zu beseitigen. „Die Welt der natürlichen Einstellung also, deren ich mir als endlos ausgebreitet in Raum und Zeit bewußt bin, aus der mir ein kleiner Teil, umgeben von dem dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit, anschaulich gegenwärtig ist, soll ‚eingeklammert’ werden.“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S, 70; in der Darstellung Husserls folge ich Stegmüller.) 

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zurück zum Anfang des Kapitels

Husserl nennt diese Methode auch „phänomenologische Epoché“. Geht man vom Anschaulichen zum Abstrakten vor, dann ergeben sich folgende Komponenten der Reduktion und Einklammerung des Bewusstseinsstroms:

  1. Die „historische Einklammerung“ legt alles ab, was an Theorie und Meinung erinnert, nur die unmittelbare Sache soll gegeben sein. (Tendenz zur absoluten Vorurteilslosigkeit)
  2. Danach folgt die „existentielle Einklammerung“, in der sich von allen Existenzialurteilen enthalten wird. Denn es ist gleichgültig, ob ich z. B. die Wesenheit „Rot“ an einem sinnlich vorliegenden Gegenstand isoliere oder an einer bloßen Vorstellung von etwas Rotem oder von einem imaginären Traum, sofern nur überhaupt Rot in der Wirklichkeit vorkommt. Die historischen und existenziellen Einklammerungen reichen aber nicht aus, um das Wesen zu bestimmen, da sie sich auf Einzelheiten beziehen, das Wesen aber etwas Allgemeines ist. Deshalb kommt hinzu als
  3. die „eidetische Reduktion“: Sie führt zur Unterscheidung von Tatsachen, Fakten, Einzelheiten und deren „Wesen“ (Eidos). Aus dem Tatsächlichen wird das Wesen, z. B. dieses individuelle Rot wird zum Wesen Rot, dieser individuelle Mensch hier und jetzt wird zum Wesen Mensch. Die eidetische Reduktion führt zum „transzendenten Eidos“, das den Gegenstand der Ontologie bildet. Das philosophische Bedürfnis in der bürgerlichen Philosophie, „zurück zu den Sachen“, das sich gegen die vor 1914 im akademischen Betrieb herrschende neukantianische Philosophie mit ihrem Formalismus richtet, findet in diesem Husserlschen Gedanken ihr neues Fundament. Mit der eidetischen Reduktion kreuzt sich
  4. eine „transzendentale Reduktion“, „durch welche die Gegebenheiten im naiven Bewußtsein zu transzendentalen Phänomenen im ‚reinen Bewußtsein’ werden“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S. 71). Der alleinige Vollzug der transzendentalen Reduktion führt zum „transzendentalen Faktum“ (oder zum „transzendentalen Apriori“), das den Gegenstand der Metaphysik ausmacht.

Bei der eidetischen Reduktion ist – gegen die Kritik der Neukantianer (Intuitionismus-Vorwurf) - sowohl die Anschauung, z. B. in der historischen Einklammerung als Voraussetzung der eidetischen Reduktion, als auch der Verstand (im Vollzug der Akte der Reduktion) wie auch die Spontaneität des Denkens wesentlich mitbeteiligt. „Das Eidos wird nicht einfach ‚gesehen’, sobald ein Seiendes zur originären Gegebenheit gebracht ist, sondern die möglichen Abwandlungen dieses Seienden müssen denkend durchlaufen werden, und das Wesen ist dabei erkennbar als das, was in dieser Möglichkeitsabwandlung invariant bleibt.“ (Stegmüller: Hauptströmungen, S. 80 f.)

Kritik der phänomenologischen Methode

Diese Methode hat sich als äußerst fruchtbar in der bürgerlichen Philosophie erwiesen (z. B. Scheler, Heidegger, Existenzialismus), auch die Kritik an ihr konnte ihren Erfolg nicht verhindern. Es tat sich ein unendliches neues Arbeitsfeld auf für die, die diese Methode benutzten, um sich den "Sachen selbst" zuzuwenden. Das konnte selbst die folgende Kritik, die im Irrationalismus-Vorwurf mündet, nicht verhindern. Offensichtlich besteht bis heute ein großes Bedürfnis in der bürgerlichen Philosophie, sich den Tatsachen zuzuwenden, ohne sie rational begreifen zu wollen. "Trotz harter Irrationalismusvorwürfe" gewinne die Phänomenologie "wieder an Aktualität" (Fellmann: Phänomenologie, S. 22 f.)

Die historische Reduktion auf ein Unmittelbares, z. B. Rot nach Husserl, setzt eine Vorstellung von seinem Wesen immer schon voraus, sonst könnte ich diese Bestimmung gar nicht aus dem „Erlebnisstrom“ (Husserl) isolieren. Die Wesensschau ist deshalb ein Zirkelschluss. Wenn das Bewusstsein wirklich voraussetzungslos aus dem Komplex der Vorstellungen etwas isolieren wollte, dann müsste es dem ersten Kapitel der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel folgen: Was einzig unmittelbar gegen ist, sind das Hier und Jetzt, also Raum und Zeit als Formen der Anschauung, aber keine bestimmte Eigenschaft, schon gar kein Wesen. (Vgl. Bensch: Perspektiven)  Die Wesensschau soll das Wesen der Dinge begründen – sie setzt aber bereits das Vorhandensein von Wesenheiten voraus – dies müsste aber erst für eine Philosophie, die mit dem Unmittelbaren beginnen will, bewiesen werden. Husserl schließt aus seiner Wesensschau unbegründet auf das Vorhandensein von Wesenheiten.

Die moderne positivistische Wissenschaftstheorie lehnt die Epoché ab, weil es ein „zweifacher Weg in die Mystik“ sei. Falsch daran ist die Ablehnung der Differenz von Wesen und Erscheinung, richtig daran ist die Kritik an einer Methode, welche die Spontaneität und Intuition des Denkens als feste methodische Regel aufspreizt – was ein Widerspruch ist zur Spontaneität und Intuition des Denkens, die nur unreglementiert ihrem Begriff nach vorstellbar sind. Was im Resultat des spontanen Denkens wahr ist oder nicht wahr ist, erweist sich erst dadurch, ob es stimmig in eine Theorie sich integrieren lässt oder ob diese Theorie auf rationale Weise modifiziert werden muss – dann ist aber die begriffliche Reflexion entscheidend für die Geltung der Intuition. Letztlich erweist und bewährt sich die Wahrheit einer Theorie in der Praxis, die aus der Theorie folgt (siehe auch 2.2.2.).

Sachliche Resultate hat Husserl nicht geliefert – im Gegensatz zu seinem Schüler Scheler. An dessen Ergebnissen wäre die vorangehende Kritik zu verifizieren. Husserl versucht die Schranken der Subjektivität zu transzendieren (Bulthaup: Metakritik, 1., S. 3). Er will transzendentes Sein immanenzphilosophisch begründen (S. 11). Das aber verfällt der Kantischen Kritik an der Ontologie, in der Kant nachweist, dass Ontologie nur die Denkbestimmungen hypostasiert.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zurück zum Anfang des Kapitels

1.2.    Eine Vorbemerkung zu Schelers Kantkritik

Die berühmt berüchtigte Kritik Schelers an der Kantischen Philosophie geht schon aus dem Titel seines Hauptwerkes hervor. Diese Kritik zu erörtern würde ein Buch erfordern, das an Umfang über das von Scheler hinausgehen würde. Wenn überhaupt wird in der Erörterung der Schelerschen materialen Wertethik nur auf seine Kantkritik eingegangen, wenn es unbedingt nötig ist zur Erklärung seiner Position. Schelers Kantkritik besteht aus Halbwahrheiten, Schiefheiten, direkten Fehldeutungen bis hin zu polemischen Fälschungen. Es liegt der Verdacht nahe, dass er Kants Moralphilosophie nur aus den Darstellungen des Neukantianismus kennt, sie auf jeden Fall durch dessen Perspektive betrachtet. Dies zeigt sich z. B. in der Umdeutung der „Kritik der reinen Vernunft“ in eine erzeugende Erkenntnistheorie, die von der Kantischen Voraussetzung, der Reflexion wahrer Wissenschaft völlig abstrahiert (vgl. Wertphilosophie II, S. 13 ff.).

Der immer wieder gegen Kant von Scheler gemachte Vorwurf lautet: „Analog wie er in der theoretischen Philosophie die Materie der Anschauung mit einem 'Chaos', einem 'ungeordneten Gewühl' von Empfindungen gleichsetzt, in das erst der 'Verstand' nach den ihm immanenten Funktionsgesetzen, die in aller Erfahrung gelegenen Formen und Ordnungen bringen soll, so – meinte er – seien auch die 'Neigungen' und 'Triebimpulse' zunächst ein Chaos, in das erst der Wille als praktische Vernunft nach einem ihm eigenen Gesetze jene Ordnung bringe, auf die er die Idee des 'Guten' meint zurückführen zu dürfen. “ Diese Auffassung von Kants Philosophie, die Scheler bei den Neukantianern vorfindet, widerspricht aber deren Geist und Buchstaben. So lehrte Kant in seiner „Logik“: „Alles in der Natur, sowohl in der leblosen als auch in der belebten Welt, geschieht nach Regeln, ob wir gleich diese Regeln nicht immer kennen.“ (Kant: Logik, S. 432)  Scheler konfundiert durchgängig die erkennende Leistung der menschlichen Subjektivität, die Kant herausarbeitet, mit der ontologischen Grundlage der Gegenstände des Denkens, die Kant als unbekanntes Substrat des Denkens voraussetzt. Entsprechend sind ihm Begriffe wie „Ding an sich“ und „intelligibles Substrat“ nur Anlass zum Spott (vgl. Scheler: Ethik, S. 70). Indem Scheler die Probleme, die darin verborgen liegen, abstrakt negiert, fällt er auf sie herein, wie ich an seiner phänomenologischen Begründung der Werte zeigen werde. In vorweggenommener Kritik wendet Kant gegen die Phänomenologie ein: „Wir können nicht verstehen, als was ein unseren Worten Korrespondierendes in der Anschauung mit sich führt. Wenn die Klagen: Wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein, so viel bedeuten sollen, als, wir begreifen nicht durch den reinen Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen; so sind sie ganz unbillig und unvernünftig; denn sie wollen, daß man ohne Sinne doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne, folglich daß wir ein von dem menschlichen nicht bloß dem Grade, sondern sogar der Anschauung und Art nach, gänzlich unterschiedenes Erkenntnisvermögen haben, also nicht Menschen“ sind. (Kant: Kr.d.r.V., S. B 333 f.) Dieses amenschliche Erkenntnisvermögen unterstellt aber die Phänomenologie, wie ich zeigen werde. Letztlich geht diese Fehldeutung bei Scheler auf seine Abwertung des Geistigen und die daraus folgende Flucht ins Irrationale und Ontologische zurück. Die Abwertung des Geistigen aber ist sozial durch die spätbürgerliche Resignation bedingt.

Wie verfälschend Scheler in seiner Kritik an Kants Moralphilosophie vorgeht, zeigt seine Auffassung von der Würde der Person. Er stimmt Kant zu, dass der Person die höchste Würde zuerkannt werden müsse und kritisiert Kant, dass er sie entwürdige, wenn er sie unter ein abstraktes Gesetz, „unter die Herrschaft eines unpersönlichen Nomos“ stelle. (Scheler: Ethik, S. 384)  Er verschweigt dabei die Hälfte der Kantischen Argumentation, dass der Mensch nur dem Moralgesetz unterstellt sein darf, dass er sich selbst geben könne. Bei Scheler dagegen untersteht der Mensch den materialen Werten, die ontologisch sind. Er wäre also nach Kant würdelos, auch wenn Schelers materiale Werte keine äußeren Güter sind, von denen er als würdiger auch nach Scheler nicht abhängen dürfe, sondern sich aus dem Sein des Menschen ergeben, ein Sein, das aus der Willkür der Interpretation von Scheler fließt und irrational ist, wie sich ergeben wird. Scheler entwürdigt also den Menschen und wirft dies durch Verfälschung des Kantischen Gedanken seinem Gegner vor. Auch L. W. Beck zeigt in seinem Kommentar von Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (Kants Kritik, S. 276), wie Scheler Kant falsch interpretiert: „Seine Kant-Kritik läuft darauf hinaus, daß für Kant das Apriori leer sein muß, weil es rein formal ist. Aber da auch für Scheler ethische Prinzipien a priori sind, so muß es ein materiales Apriori geben, d. h. eine Intuition materialer Wertwesenheiten. Auf diese Weise glaubt Scheler, die 'Subjektivität' und den 'Intellektualismus' der Kantischen Ethik zu vermeiden, die aus Kants angeblichem 'leeren Formalismus' folgen. Aber diese Kritik verfehlt den entscheidenden Punkt in der Kantischen Unterscheidung zwischen dem Objekt des Willens, das immer gegeben ist (Sittengesetz), und dem Objekt des Willens als Bestimmungsgrund des Handelns, das sich nur in einer empirischen praktischen Vernunft findet (die konkreten Zwecke und deren Verwirklichung). In seiner eigenen systematischen Darstellung der Ethik hat Scheler kein rationales Kriterium für materiale Prinzipien, das die Rolle des formalen Prinzips in Kants Theorie übernehmen könnte.“ (Beck: Kants Kritik, S. 276, Einfügungen und Hervorhebung von mir)

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zurück zum Anfang des Kapitels

1. 3.   Der Anspruch Max Schelers

Max Scheler wendet sich dem Anspruch nach ausdrücklich gegen „Erscheinungen eines sich so nennenden ‚Irrationalismus’“. (Ethik, S. VII)  Der Geist seiner Ethik soll der „Geist eines strengen ethischen Absolutismus und Objektivismus“ sein. (S. XI)  Scheler spricht von einem „Wertobjektivismus“, der sich gegen die „herkömmlichen relativistischen und subjektivistischen ethischen Lehrmeinungen“ wendet. (S. XI)  Sein „Hauptziel der Untersuchung besteht in einer streng wissenschaftlichen und positiven Grundlegung der philosophischen Ethik bezüglich aller wesentlicher für sie in Frage kommender Grundprobleme“ (S. V). Er will eine „Grundlegung, nicht Ausbau der ethischen Disziplin in die Breite des konkreten Lebens“ (S.V). Es geht Scheler um „die Grenze dessen, was in streng apriorischen Wesensideen und Wesenszusammenhängen aufweisbar ist“ (S.V). Seiner „phänomenologischer Fundierung“ der Ethik soll ein „systematischer Charakter“ zukommen, weil die "erforschbaren Sachen der Welt selber einen systematischen Zusammenhang bilden“ (S. VII). Scheler ist in der Wertphilosophie der erste, „bei dem das Wertthema von vornherein im Kontext der Ethik“ steht. (Schnädelbach: Philosophie, S. 225)  Scheler will zu einer „konkreten einsichtigen und gleichwohl von allen positiven psychologischen und geschichtlichen Erfahrungen unabhängigen Lehre von den sittlichen Werten, ihrer Rangordnung und den auf dieser Rangordnung beruhenden Normen“ kommen. (S. 2).  Damit will er zugleich zu „jedem auf wahrer Einsicht beruhenden Einbau der sittlichen Werte in das Leben des Menschen“ gelangen. Scheler will „etwas Bindendes ausmachen“. (S. 2)  Allerdings will Scheler in seiner materialen Wertethik keine „positive Ethik“ entwickeln, also kein System der Werte aufstellen, sondern nur die „Grundarten apriorischer Wesensverhältnisse“ geben (Scheler: Ethik, S. 79).

Am Ende seines 2. Vorworts von 1921 schiebt Scheler aber bereits diese strenge Wissenschaftlichkeit beiseite, indem er die Fundierung seiner Werte in einem göttlichen Weltgrund andeutet, eine Frage, „deren Lösung wir nur zu erfahren mögen durch die mögliche Antwort, die unserer Seele in der Einstellung des religiösen Aktes der Weltgrund selbst erteilt.“ (Ethik, S. XII)  Dieser Zugang über den religiösen Akt ist aber nur den Eingeweihten oder Gläubigen möglich, mir jedenfalls hat sich der Weltgrund noch nicht offenbart. War sein Anspruch, streng rational vorzugehen, so deutet sein Vorwort bereits an, dass er im Irrationalismus enden wird. Es ist nun zu fragen und immanent kritisch zu prüfen, ob wenigstens seine phänomenologische Begründung der Werte seinem wissenschaftlichen Anspruch standhält. 

Diese Kritik der Wertphilosophie Schelers stellt sich nicht die Aufgabe, das Gesamtwerk dieses Autors zu untersuchen. Sie konzentriert sich auf die Wertphilosophie und bezieht andere Aspekte von Schelers Philosophie nur insofern mit ein, als sie die Begründung und die Folgen dieser Wertphilosophie deutlich machen. Der Schwerpunkt liegt auf der Frage: Lassen sich Werte objektiv, auch für andere einsichtig begründen?

Zurück zum Anfang des Kapitels

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Weiter zu Teil 2

Divider Linie

Wenn Sie uns Ihren Kommentar schreiben
wollen, können Sie dies über unser:

Feedback-Formular

 

Zum Impressum

© Copyright:

Alle Rechte liegen beim Verein zur Förderung des dialektischen Denkens e.V. und der Zeitschrift Erinnyen.
Die Rechte des wissenschaftlichen Beitrags: Kritik der Wertphilosophie III, liegen allein beim Autor.

Letzte Aktualisierung: 19.04.2007